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Hat das Konzil von Nizäa den neutestamentlichen Kanonerfunden?

Ideen haben Konsequenzen. Eine Idee, die gefährliche Konsequenzen nach sich gezogen hat, ist die Vorstellung, das Konzil von Nizäa (325 n. Chr.) habe unter der Autorität des römischen Kaisers Konstantin den biblischen Kanon festgelegt.

Entstammt die Bibel einigen wenigen elitären Bischöfen, die auswählten, welche Bücher aufgenommen werden sollten? Sollten wir einem römischen Kaiser die Erschaffung der Bibel zuschreiben? Nein. Diese Unwahrheit wurde benutzt, um die Ursprünge des Kanons in Zweifel zu ziehen und damit die Autorität der Bibel zu untergraben.

Dan Browns Bestseller The Da Vinci Code aus dem Jahr 2003 hat diese Idee in unserer Kultur verankert und viele in dem Glauben zurückgelassen, dass Konstantin oder Nizäa die Bibel erschaffen hätten. Aber Brown hat diese Geschichte nicht selbst erfunden. Er hat sie durch seinen Roman bloß weiter am Leben erhalten. (Dasselbe gilt für The Order, das neueste Buch des populären Spionageromanautors Daniel Silva. In einer Anmerkung gibt der Autor zu: „Christen, die an die Irrtumslosigkeit der Bibel glauben, werden zweifellos Einwände gegen meine Beschreibung der Evangelisten und der Entstehung ihrer Evangelien erheben“).

Nizäa und der Kanon in der Geschichte

Es gibt keine historische Grundlage für die Vorstellung, dass das Konzil von Nizäa den Kanon festgelegt und so die Bibel erschaffen hat. The Biblical Canon Lists from Early Christianity und andere frühe Belege zeigen, dass die Christen vor und nach Nizäa über die Grenzen des biblischen Kanons argumentierten. So unterscheiden sich zum Beispiel selbst Listen von pro-nizänischen Vätern wie Kyrill von Jerusalem (ca. 350 n. Chr.) und Athanasius von Alexandria (ca. 367 n. Chr.) in der Frage, ob die Offenbarung in den Kanon aufgenommen werden sollte. Keine der frühen Aufzeichnungen des Konzils und auch keiner der dem Konzil beiwohnenden Augenzeugen (z. B. Eusebius oder Athanasius) erwähnen einen Konzilsbeschluss, der über den Kanon entschied.

In der Vorrede zu seiner lateinischen Übersetzung von Judith schrieb Hieronymus:

„Da aber das Konzil von Nizäa dieses Buch zu den heiligen Schriften gezählt haben soll (legitur wörtlich „gelesen“), habe ich eurer Bitte (oder sollte ich sagen Forderung!) entsprochen.“

Könnte sich Hieronymus auf eine offizielle Entscheidung bezogen haben, Judith in den Kanon aufzunehmen? Das ist unwahrscheinlich.

Die frühesten Vertreter der nizänischen Orthodoxie – von Athanasius über Gregor von Nazianz und Hilarius von Poitiers bis hin zu Hieronymus selbst – führen Judith nicht in ihren Kanonlisten auf. Wenn in Nizäa eine Entscheidung über die Kanonizität von Judith getroffen worden wäre, hätten die frühesten Befürworter es in die Liste der kanonischen Bücher aufgenommen. Aber das tun sie nicht. Stattdessen beschreibt Hieronymus wahrscheinlich Diskussionen, in denen einige Väter Judith als zur Schrift gehörend bezeichnet haben könnten. In jedem Fall endeten diese Diskussionen nicht mit einer formellen konziliaren Entscheidung über die Grenzen des Kanons. Es scheint jedoch, dass Hieronymus‘ Aussage später dahingehend missverstanden wurde, dass Nizäa über den Kanon entschieden habe, was uns zum Rest der Geschichte führt.

Nizäa und der Kanon in der Legende

Diese Vorstellung hat ihren Ursprung in einem griechischen Manuskript aus dem späten neunten Jahrhundert, dem Synodicon Vetus, das angeblich die Beschlüsse der griechischen Konzile bis zu dieser Zeit zusammenfasst. Andreas Darmasius brachte dieses Manuskript im 16. Jahrhundert aus Morea mit. Johannes Pappus bearbeitete und veröffentlichte es dann 1601 in Straßburg. Hier ist der entsprechende Abschnitt:

Das Konzil machte die kanonischen und apokryphen Bücher auf folgende Weise kenntlich: Sie legten sie im Haus Gottes neben den göttlichen Tisch und baten den Herrn, dass die göttlich inspirierten Bücher doch auf dem Tisch gefunden werden mögen, die unechten dagegen unter dem Tisch; und so geschah es.

Nach dieser Quelle empfing die Kirche ihren Kanon aufgrund eines Wunders, das sich in Nizäa ereignete, als der Herr die kanonischen Bücher veranlasste, auf dem Tisch zu liegen und sich die apokryphen oder unechten Bücher darunter fanden.

Ausgehend von Pappus‘ Ausgabe des Synodicon Vetus kursierte dieses Zitat weiter, wurde zitiert (manchmal so, als stamme es von Pappus selbst, nicht von dem von ihm herausgegebenen griechischen Manuskript!) und fand schließlich seinen Weg in die Werke prominenter Denker wie Voltaire (1694-1778). In seinem philosophischen Wörterbuch schreibt dieser:

Durch ein ähnliches Verfahren unterschieden die Väter desselben Konzils die authentischen von den apokryphen Büchern der Heiligen Schrift. Nachdem sie sie alle auf den Altar gelegt hatten, fielen die apokryphen Bücher von selbst zu Boden.

Etwas später fügt Voltaire hinzu:

Wir haben bereits gesagt, dass in der Beilage zum Konzil von Nizäa berichtet wird, dass die Väter, die sehr verunsichert darüber waren, welches die authentischen und welches die apokryphen Bücher des Alten und Neuen Testaments waren, sie alle auf einen Altar legten, und die Bücher, die sie verwerfen sollten, fielen zu Boden. Wie schade, dass eine so schöne Feuerprobe verloren gegangen ist!
„Obwohl die Geschichte des Kanons an einigen Stellen etwas verworren ist, gibt es keinen Beleg dafür, dass er von einigen wenigen christlichen Bischöfen und Kirchen, die 325 in Nizäa zusammenkamen, festgelegt wurde.“

Voltaire erwähnte bereits, dass Konstantin das Konzil einberufen hatte. In Nizäa unterschieden die Väter dann die kanonischen von den apokryphen Büchern durch ein Gebet und ein Wunder. Die Veröffentlichung von Pappus‘ 1601 erschienenem Synodicon Vetus – und die anschließende Erwähnung des Wunders von Nizäa, insbesondere durch Voltaire in seinem Wörterbuch – scheint der Grund dafür zu sein, dass Dan Brown die Ereignisse so farbenfroh schildern konnte und dass viele andere diese Legende weiterhin aufrechterhalten.

Eine Frage der Autorität

Da unsere Kultur immer säkularer wird, werden viele weiterhin die Ursprünge der Bibel und insbesondere die Rolle des frühen Christentums bei der Entstehung des Kanons anzweifeln. Obwohl die Geschichte des Kanons an einigen Stellen etwas verworren ist, gibt es keinen Beleg dafür, dass er von einigen wenigen christlichen Bischöfen und Kirchen, die 325 in Nizäa zusammenkamen, festgelegt wurde.

„‚Die Kirche hat uns den Kanon genauso wenig gegeben, wie Sir Isaac Newton uns die Schwerkraft gegeben hat.‘“

Christen müssen sich in diesen Zeiten gegenüber solchen Angriffen wappnen und zuversichtlich bekräftigen, dass der biblische Kanon das Werk Gottes ist, das von den Kirchen über viele Jahre hinweg anerkannt wurde. In den anschaulichen Worten von J.I. Packer formuliert: „Die Kirche hat uns [den] Kanon genauso wenig gegeben, wie Sir Isaac Newton uns die Schwerkraft gegeben hat.“